Freitag, 12. Juni 2009

Nepal: Wo die Berge den Himmel berühren


Reisebericht von Ines Wilke

Ich stehe vor einer nicht ganz leichten Entscheidung: Lausche ich der Stille des Altiplano-Hochlandes oder den mystischen Klängen der nepalesischen Gebetsmühlen? Ich stelle mir vor wie der heiße Wind alles Überflüssige einfach wegweht. Und ich plötzlich ganz klar werde. Dann male ich mir die goldenen Farbspiele der Gebirgswüste mit ihren gigantischen Canyons aus, träume von bunten Indianerdörfern und natürlich der Pracht des Machu Picchus: Peru, eines meiner Sehnsuchtziele!

Auf der anderen Seite lockt mich die einmalige Magie Nepals. Im mavia soul travel-Katalog lese ich: „Himalaya-Eisriesen leuchten bei Sonnenaufgang in ihrer weißen Pracht am Horizont. „Eine Kombination aus Landschaft, Mystik, faszinierender Kultur und außergewöhnlichen Menschen wartet auf Sie", lese ich weiter. Leider hat mich Trekking noch nie besonders gereizt. Die mavia Reise-Designerin die mit mir eine wunderbare Reise überlegt, rät mir, dass ich in Nepal auf jeden Fall ein Trekking nach Jomson oder Kagbeni mitmachen sollte, um die Naturschönheiten des Landes zu erleben. Ich möchte mir jedoch genügend Zeit für die Königsstädte Patan und Bhaktapur nehmen und nicht ganz so hoch in die Bergwelt hinaus. Also, schlägt sie mir eine leichte Tour vor, die gut zu schaffen ist, viel Abwechselung bietet und trotzdem sehr „malerisch“ sein soll. Ich bin überzeugt.

Ziemlich aufgeregt sitze ich im ausgebuchten Flieger und blättere in meinem Reise-Programm, das ich ja zum Glück jeder Zeit nach Lust und Laune vor Ort ändern kann: „Sie halten eine für Sie maßgeschneiderte Privatreise in den Händen: Landschaften, die die Seele berühren, ein Ambiente das belohnt und ein Reiseablauf, der wertvolle Eindrücke bereit hält…“ Klingt echt gut! Mal sehen, ob es stimmt. Zuerst werde ich ein paar Tag nach Kathmandu reisen, um die wichtigsten hinduistischen und buddhistischen Tempel, Klöster und Paläste zu besuchen. Dann folgt ein Soft-Trekking am Annapurna-Massiv mit hoffentlich großartiger Aussicht auf die Gipfel der Himalaya-Giganten: dem berühmten Mount Everest, Machhapuchhare oder Dhaulagiri. Anschließend schaue ich mir noch die beiden ehemaligen Königsstädte Patan und Bhaktapur an. Bin gespannt: Wer und was mir wohl alles begegnen wird...?

Am Flughafen erwartet mich Durga, mein privater Guide. Wir fahren direkt ins Hotel: Das Dwarika's ist das beste Hotel vor Ort und eine Oase der Ruhe. Ich residiere fürstlich in einem großzügigen, stilvoll eingerichteten Zimmer.

Nach einer kurzen Ruhepause bin ich bereit für den ersten Abend-Ausflug. Wir fahren zur größten Stupa des Landes: Bodnath. Tibetische Stupas sind symbolische Grabmäler und Kultbauten. Ihr runder, Hut-ähnlicher Aufbau mit goldenem Turm symbolisiert auch die fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Das 40 Meter hohe buddhistische Heiligtum ist ein unglaublicher Kraft-Ort. Ich schaue in die allsehenden blauen Augen Buddhas und mir wird ganz feierlich zumute. Ich bin ergriffen: Blutjunge Mönchen in roten Gewändern umkreisen in Sonnenrichtung die Tempelanlage. Einige Frauen werfen sich mit demütigster Inbrunst auf den staubigen Boden, es wirkt fast als würden sie ihre Körper opfern. Das sakrale Bild eines leisen Klanggewebe aus Seufzern, schwerem Atmen und kanonhaften unablässigem Flüstern des Mantras "Om mani padme hum" (Übersetzt: Der Juwel im Lotus) zieht mich in seinen Bann. In ihrem Rezitieren formuliert sich der Wunsch nach Befreiung aller Lebewesen aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (Nirwana). Die Gebetsmühlen drehen sich ohne Pause und untermalen die magische Stimmung. Durga nimmt mich am Arm und wir folgen den Mönchen. Schon nach zehn Minuten fühle ich mich wie neu geboren! Komplett energetisiert. Was für ein unglaublicher Wallfahrtsort!

Am nächsten Tag holt mich Durga bestens gelaunt ab. "Weißt Du, was heute für ein Tag ist", fragt er mich. "Nein", sage ich. "Heute hat Shiva Geburtstag!" Das erklärt die Massen von Menschen, die sich schon seit den frühen Morgenstunden durch die Straßen drängen. Ein buntes Treiben, das mich ein wenig an Fasching erinnert. Nur ohne Kostüme, dafür viele farbenprächtige Saris. Wir quetschen uns durch die Menge und steuern Pashupatinath an. Das uralte, traditionsreiche und größte nepalesische Hindu-Heiligtum, das der Gottheit Shiva geweiht ist. Es gilt als so bedeutend, dass selbst gläubigen Hindu, die in Indien leben, "empfohlen" wird mindestens einmal im Leben hier gewesen zu sein.

Langsam geht die Sonne unter und ich wandere in Begleitung meines aufmerksamen Guides durch die schummrigen Gassen und Winkel der riesigen Tempelanlage. Von allen Seiten starren mich blutrote, weltentrückte Augen an, die mich zu verfolgen scheinen. Unheimlich! Ich sehe kaum Frauen, aber Hunderte von dunklen, vollkommen bekifften Männergestalten, die sich hier versammelt haben, um Shiva zu huldigen. Im Namen Lord Shivas rauchen Sadhus (Bettelmönche) das heilige Kraut Ganja (Haschisch), um wie dieser dadurch Erleuchtung zu erlangen. Der süßliche Rauch macht mich ganz benommen. Als ich um ein Uhr nachts im Bett liege, bin ich noch immer verwirrt, beeindruckt und auch ohne Marihuana berauscht von dieser fremden Welt.

Die Tage in Kathmandu verfliegen im Nu: Ich bummele durch die Altstadt und beobachte die tibetischen Tamang-Frauen mit lustigen Zöpfen, die in pinken Saris gekleideten Stadtfrauen und die, fröhlichen Schulkinder in ihren ärmlichen orangefarbenen Schulröckchen, die sich unbedingt von mir fotografieren lassen wollen. Die Altstadt ist wie ein orientalischer Marktplatz aufgebaut: In der einen Gasse gibt es überwiegend Souvenirs, in der anderen erstaunlich viel Billig-Kitsch aus China, in der nächsten Schals und Haushaltwaren. Wer soll das alles kaufen, frage ich mich? Von der sengenden Mittagshitze und dem anstrengenden Lärm bin ich erschlagen und gehe zurück ins Hotel. Im kühlen Patio trinke ich einen erfrischenden Mint-Tea. Morgen geht es weiter nach Pokhara, dem Ausgangspunkt für meine Trekking-Tour.

Um sieben steht der Fahrer am nächsten Morgen schon vor dem Hoteleingang. Wir brechen auf in das 200 km entfernte grüne Tal. Wir passieren Marktplätze mit allerlei Waren, ärmliche Dörfer die für mich ganz indisch aussehen und viele fliegende Händler, die frisches Obst verkaufen. Nach gut sechs Stunden kommen wir endlich in Pokhara, am berühmten Phewa-See gelegenen Touristen-Ort an. Hier leben etwa 200.000 Menschen unterschiedlicher Völkerstämme: Vornehmlich Gurung, Newar, Thakali, Inder. Im Gegensatz zu den von Menschenhand geschaffenen Heiligtümern Kathmandus sind hier die natürlichen Heiligtümer des Himalaya, die Hauptattraktion. Die meisten Besucher kommen, um zu einer Trekking-Tour aufzubrechen und die "Wohnsitze der Götter" zu bewundern.


Wieder mal sechs Uhr morgens: Buddhi und Diddi, der sympathische Guide und der schüchterne, kräftige Träger holen mich ab. Wir starten von einem einstündig entfernten kleinen Ort. Strammen Schrittes wandern wir auf schmalen Pfaden vorbei an Reis- und Hirse-Terrassen. Gebetsfahnen flattern im Wind. Wir treffen fast nur Einheimische, die mich mit "Namaste" begrüßen, das soviel heißt wie "Ich grüße den Gott, der in Dir wohnt". Wir laufen durch blühende Rhododendronwälder, vorbei an einsamen Höfen, kleinen Siedlungen, grünen Feldern und satten Bergwiesen. Immer in Richtung Landruck, einem hübschen traditionellem Dorf, in dem man das Gefühl hat, das die Zeit
stehen geblieben ist: Die älteren gebrechlichen Menschen werden in Körben auf den Schultern kräftiger junger Männer in die Bergdörfer getragen, die Felder werden zu zweit mit einem starken Bullen und einem einfachen Pflug bestellt. Die Frauen müssen genauso zupacken: Sie tragen kilometerlang schwere Reissäcke von Hof zu Hof, die Wäsche wird noch mühsam mit der Hand geschrubbt, die Linsen werden zum Trocken sorgfältig auf ein großes Tuch gelegt und stundenlang akribisch mit der Hand verlesen…

Wir ziehen weiter und passieren Schulen, Schneider, Bauern und Weber. Nach sechs Stunden Wanderung freue ich mich auf ein gekühltes Bier. Wir machen eine Pause. Nur noch eine Stunde, dann sind wir in unserer "Lodge", kündigt mir Buddhi freudig an. Am frühen Abend treffen wir uns zum Daal Bhaat, dem Nationalgericht aus Reis, Linsen, Gemüse und Fleischcurry. In der charmanten, einfachen Lodge lerne ich ein deutsches Ehepaar kennen, dass seit Jahren nach Nepal kommt und mir von unglaublich idyllischen Trekkings - weit weg von der Zivilisation vorschwärmt. Wenn ich das nächste mal hier her komme, denke ich, will ich mehr in die Einsamkeit eintauchen und den Eisriesen näher kommen… Ich könnte die Tour zwar hier und jetzt noch verlängern - Buddhi und Diddi sind jederzeit auf Programmänderungen eingestellt, doch die ehemaligen Königsstädte locken mich gerade mehr. Angenehm erschöpft krieche ich wegen der Eiseskälte mit drei Fleecepullis, einer dicken Hose, einer Strickmütze und warmen Wollsocken ins Bett und schlafe tief und fest.

Die Sonne ist gerade aufgegangen und ich blicke auf die unvergleichliche Anmut des Annapurna-Massivs, das in strahlendes Weiß-Gold getaucht ist. Die Wolkendecke hängt wie ein Watteteppich über den Bergen. Der Aufstieg hat sich gelohnt! Nun geht es wieder bergab. Bei jedem Schritt verbinde ich mich mit der Natur, meine Gedanken ordnen sich, mein Geist kommt zur Ruhe. Das Wandern hat eine beruhigende, beinahe meditative Wirkung auf mich. Nach nur vier Tagen bin ich ganz bei mir. Alle Alltagssorgen verblasst. Was für ein intensives Erlebnis!

Am nächsten Morgen fliege ich mit Buddha Air zurück nach Kathmandu. Durga holt mich am Flughafen ab und gemeinsam erkunden wir Patan, die zweitgrößte Stadt Nepals. Am Durbar Sqaure tauche ich ein in die lebendige Welt der Kulturen und Religionen Nepals: ein wahres Feuerwerk von Farben, Formen und Gerüchen! Am nächsten Tag steht Bhaktapur auf dem Programm, wo ich die Newar-Kunst der Tempelanlagen ausgiebig bewundere. Bhaktapur, Weltkulturerbe und Filmkulisse für Bertolucci’s „Little Buddha“ und seine Prachtbauten sind ein einziger Traum! Die ganze Stadt scheint aus altertümlichen Tempeln zu bestehen und hat daher eine ganz besondere, beinahe unwirkliche Atmosphäre. Das rege Markttreiben und der gut besuchte Töpfermarkt holen mich wieder zurück in die Realität.

Der schlafende Vishnu ist das letzte Highlight meiner Reise. Die fünf Meter lange liegende schwarze Figur stammt vermutlich aus dem 7.Jahrhundert nach Christus. Der Welt erhaltende Gott schläft friedlich auf einem Bett aus Schlangen und wird mehrmals am Tag von Gläubigen gewaschen und mit Blumen geschmückt. Wir erleben eine bunte Hochzeit und sehen viele Hindus, die von weither mit der ganzen Familie anreisen, um die bedeutende Gottheit zu ehren.

Am liebsten würde ich noch zwei weitere Wochen durch dieses magische Land reisen. Leider fliege ich am nächsten Tag zurück nach Europa. Als ich meinen Koffer packe, fällt mir das mavia Programm aus der Seitentasche und ich lese: „Die Welt ist wie ein Buch. Wer nicht reist, liest nur die erste Seite.“ Ich nehme mir vor, mich in Zukunft öfter in die große weite Welt zu wagen. Selten habe ich mich so lebendig gefühlt!

Wochen später plane ich mein nächstes Kapitel: Peru!

Ines Wilke, Journalistin

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